03 Der Zirkel um Xardas

Leben oder nicht Leben?

„Natürlich Leben. Was für eine dumme Frage.“, zumindest wäre dies wohl die Antwort derer, die mit gesundem Verstand ihrem Tagewerk nachgehen. Sich des Lebens zu erfreuen und Tag für Tag den Göttern für ein friedliches Leben zu danken, so leben die Menschen, deren Sorgen nur wenige und von einfacher Natur sind. Mit dem Tod endet ihr Dasein und somit ihr Wirken und ihre Bedeutung. Vor Beliars Thron hört alles auf. So ist der Glaube der Menschen und so wird er vielleicht auf ewig sein. Doch wie für alles auf der Welt, existiert auch hier eine zweite Seite der Medaille. Denn die Gänze der Wahrheit hat wohl noch kein Mensch erfassen können und so erstreckt sich auch der Weg des Lebens und Sterbens noch weit über die Grenzen dieser Worte hinaus.

Einer dieser Wege liegt in der Hand des dunklen Gottes selbst. Als seine Gabe verliehen, weilt die Macht des Totengottes in der Sphäre der Sterblichen, geführt und behütet durch seine wenigen, aber loyalen Diener. Jene Macht behält Befehl über die Seelen der Verstorbenen und erweckt zum Leben uralte Gebeine, faulendes Fleisch, totes Gestein, flüssiges Feuer und gefrorenes Wasser. Den Funken des Lebens, ob durch reine Willkür oder berechnetes Kalkül, in jeder natürlichen oder unnatürlichen Form verteilt die dunkelste aller Magien in der Welt der Sterblichen und lacht so dem ewigen Kreislauf vom Werden und Sterben ins Gesicht.

Ganz so wie es ein besonders schamloser Ausdruck dieser spöttischen Macht immer und immer wieder an den Toren des Kastells im Süden Argaans vorführt. Angeschlagen an die mächtige Pforte in das Reich der Schwarmagier, wachen diese Knochen über jene Grenze. Ihre leeren Augenhöhlen sahen sicher schon so manchen Unwissenden in Angst und Schrecken passieren, während ihre holen Schädel vor Witz zu strotzen scheinen und allem und jedem, der Einlass erbittet, einen Vers, ein Gedicht oder gar ein Epos entgegenbringen, um erfüllt von Genugtuung ihren ewig gefesselten Geist mit den Lebenden zu messen und sich an ihren entnervten Ausdrücken zu ergötzen. Doch nicht immer behalten die knöchernen Wächter die Oberhand. Denn es kehrten Magier und Hohepriester zurück, in die Unheiligen Hallen ihres größten Meisters. Kaum ein Makel an dem Charakter derer war ihnen entgangen, selten größer ihre Freude, ob der Gelegenheit ihre Reime an jenen zu messen, die zu wehren sich in der Lage sind und noch viel seltener die Ausgiebigkeit mit der sie die Rückkehr ihres verlorenen Sohnes besungen und gefeiert haben. Ein Schauspiel von einzigartiger Besonderheit sind jene Wesen, aber sie sind nicht allein.

Dem Kastell wohnen viele dieser Diener anheim. Genagelt an weitläufige Gänge oder versteckt in den Ecken und Nischen sind sie Augen und Ohren der magischen Hallen. Als stille Beobachter, deren Anwesenheit nur von den Wachsamen und Erfahrenen Bewohnern und Besuchern bemerkbar ist, folgt ihr Blick denen, die durch die Gänge wandeln. Sie sehen die Studien der Lehrlinge, die, ihre ersten Zauber langsam begreifend, vom Quell der dunklen Macht getrunken haben und somit nun ebenso das Unsein zu beschwören in der Lage sind, welches zwischen Leben und Tod liegt. Sie dienen dem Befehl der Dämonen und Magier, verrichten beständig und klaglos die niederen Arbeiten, die zu schaffen das Kastell von ihnen verlangt und stemmen, dank ihrer untoten Kraft, von den Priestern gewähltes Mobiliar, um es geschwind und unbemerkt aus den Tiefen des Kellergeschosses durch die sich ewig ändernden Gänge des ersten Stockwerks bis hin zu dem gewünschten Gemach zu bringen und dann so unbemerkt und leise in der Dunkelheit zwischen den Fackeln zu verschwinden wie sie gekommen waren.

Doch obgleich sie die vielleicht niedersten Diener des Totengottes sind, bleibt ihnen eine Seele nicht verwehrt. Ihre leere Hülle trägt Witz und Geist. Gebunden durch das hohe Wort Beliars sind sie in eine von der lebenden Welt verstoßene Hülle und dennoch sind sie fähig zu lachen, verspüren die Erheiterung vorbeigehende Reisende am Tor zu erschrecken oder wiederkehrenden Magiern die Pforte in ihr Heim zu öffnen. Sie kennen die Genugtuung von den Wenigen, die ihre Existenz akzeptieren, eine Antwort zu erhalten, sei es auf eine philosophische Frage oder lediglich einen dummen Scherz, und genau so schätzen sie die Gesellschafft untereinander, wenn sie sich im Schatten versammeln, um zusammen mit dem Hüter um den Ausgang der Prüfung eines Lehrlings zu wetten.

„Leben oder nicht Leben?“ Das ist für diese Wesen keine Frage. Sie sind der lachende Ausdruck von Beliars Hohn gegenüber dem kurzsichtigen Verständnis der sterblichen Welt von dem was die Unwissenden mit ein paar wenigen Worten wie „Leben“ oder „Tod“ beschreiben. Der Funke des Seins hat viele Formen und die Lebenden sowie die Untoten sind lediglich ein kleiner Teil einer viel größeren Wahrheit.

(--Seisuke)