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"Realismus"
Ein Kommentar von Yared

Oftmals wenn es gildenintern und übergreifend um Regeländerungen, Kursbestimmung oder Ideenbeurteilung geht, findet der Begriff "Realismus" Einzug in die jeweilige Diskussion in ganz verschiedenen Situationen und Konstellationen. Fast jeder kann sich auf den Realismus, entweder den notwendige, den empfehlenswerten oder aber den übertriebenen, stützen.
Doch inwieweit ist Realismus nützlich für eine geschriebenes Rollenspiel, inwieweit unabdingbar und inwiefern unerwünscht?
Sicher, jeder hat darüber eine eigene Meinung, das sollte uns aber nicht davon abhalten, hin und wieder auch Gedanken darüber Raum zu geben, was Rollenspiel für uns ist und wie sich einzelne Aspekte auswirken können.
Einer dieser Aspekte ist auch der Realismus, sogar ein sehr essenzieller, wie mir scheint.

Wie schreiben, wir alle, von daher wäre es wohl am nächstliegenden, sich die Realismus-Definition der Literatur anzusehen und zu überlegen, was man aus ihr für die Realismus-Definition des RPGs entdecken kann. Doch der Realismus, wie er als Literaturepoche definiert wird, ist auf den ersten Blick recht fern von dem im RPG gebräuchlichen Realismusbegriff, auch wenn auf den zweiten Blick die Distanz viel geringer sein mag.
Die eingehende Beschäftigung damit ist zwar durchaus empfehlenswert, jedoch in unserem Falle wenig konstruktiv, denn wir sind ein RPG und was für einen Roman gut ist, muss noch lange nicht für ein Rollenspiel gut sein.
Realismus ist einerseits der Versuch, möglichst genau und detailliert zu beschreiben, wie auch der Versuch, Verhalten und Verhältnisse der Realität in das Rollenspiel einzubringen.
Ersteres ist meist gern gesehen und frei von größeren Kontroversen, letzteres aber ist hin und wieder Anlass zu Diskussionen, in denen es hauptsächlich darum geht, inwieweit Realität und Rollenspiel aufeinander abbildbar sind - zweifelsohne ein wichtiger Ansatz.

Als Gegenargument zum Realismus im Sinne der Abbildung der gegenwärtigen meist auch der längst vergangenen Realität wird oft angeführt, dass eine Welt in der Magie, Orks und andere obskure Gestalten ihr Unwesen und Wesen treiben, nicht mit der Realität vergleichbar sein kann. Doch stimmt das wirklich?
Jeder Gedanke, jede Idee, jede noch so kleinen Wendung oder Begebenheit im RPG geht auf unser Vorstellungsvermögen zurück, das sich aus Erfahrungen speist, aus realen Erfahrungen. Die virtuelle Welt, in die wir uns hineinschreiben und hineindenken, ist bestimmt von unseren Gedanken, von unserem Verhalten und damit geprägt von unseren Erfahrungen. Jeder Charakter, den wir beschreiben, trägt unweigerlich einen Teil unseres Gedankenguts mit sich. Ist also nicht jede Zeile Rollenspiel nicht auch Realitätsabbildung?
Mit Sicherheit sogar ist es so, doch was hat dies mit der Diskussion um die realen scheinbaren Gesetzmäßigkeiten von Wirtschaft und Gesellschaft in Anwendung auf das RPG zu tun?

Genügend um darüber nachzudenken, meine ich.
Aber lasst uns vorerst noch einmal zurück gehen zum klassischen Beispiel, einem sehr umstrittenen Beispiel, exemplarisch die Wirtschaftskreisläufe einer solchen Welt. Wir werden alle darin übereinstimmen, dass auch die Gothic-Welt ökonomischen Zwängen und Entwicklungen unterworfen ist, doch was der einzelne als eindeutig definiertes System beschreibt, wird von anderen ganz anders gesehen und dargestellt.
Wie man an diesem Beispiel auch sieht geht es oftmals um den Kampf von Realismus gegen InTopic-Machtgefüge, die nicht damit umgehen können oder wollen auch gewissen Einflüssen von Außen unterworfen zu sein und nicht vom rein agierenden Part abweichen wollen, sich der reagierenden Rolle nicht hingeben wollen.
Natürlich ist das RPG keine Wirtschaftssimulation, das ist auch gar nicht notwendig und würde die Ideenvielfalt oft nur zu sehr einschränken, wenn man hergehen würde und jedes einzelnen Goldstück ständig gegenrechnen, überprüfen müsste.
Aber ist es dennoch nicht spannend Machtverflechtungen, wie beispielsweise über wirtschaftliche Zusammenhänge, wachsen und sich entwickeln zu lassen?

Doch was bringt uns angewandter Realismus?
Nicht nur Vorteile, so werden manch meinen. Sicher, wie im Beispiel gerade eben genannt, kann Realismus ungemein einschränken und ungemein bindend sein. Wer sich einmal für eine Verflechtung von Machtpositionen, von Charaktergeschichten, von Gildenschicksalen und Storylines entschieden hat, scheint nicht mehr ganz so frei zu sein, auch in der eigenen Charakterentwicklung beispielsweise.
Doch wird das Schicksal einer Figur, einer Gruppierung nicht gerade dann interessant wenn man die Vorgeschichte kennen lernt? Ist nicht fortlaufende Entwicklung gerade dass was den Rollenspieler im Besonderen vom normalen Geschichtenschreiber unterschiedet, ist es nicht das prägenden Aufeinandertreffen von Charakteren, was vor allem viele Veteranen des Rollenspiels noch aktiv, noch in unseren Reihen hält?
Viele alte Charaktere haben eine Geschichte zu erzählen, in der sie manchmal Hauptperson manchmal aber auch nur Statisten waren. würde man nur die Beträge eines einzelnen Charakters lesen, man könnte höchstens zwei drittel der Charakterentwicklung miterleben. Genau dort tritt es zu tage, das Verweben der Schicksale, die Bildung einer Gesellschaft und wo diese Gesellschaft besonders dicht ist, auch durch das Hilfsmittel der NPCs, gerade an solchen Orten entsteht Lebendigkeit, Detailverliebtheit und Spannung.

Dies alles fehlt und wirkt spröde, wenn sich jeder nur nach Lust und Laune ohne Vorstellung und Konzept treiben lässt. Für jede Wendung wird dann plötzlich ein Deus ex machina benötigt, sodass das RPG alsbald nur von seltsamen verklärten Schatten einer möglichen sich ständig verändernden ungeklärten Vergangen trieft?
Das entzieht den Geschichten Glaubwürdigkeit, weil es Handlungsweisen unwirklich und unbegründet erscheinen lässt.

Jedem Stück virtueller Welt liegt die Realität des Autors zu Grunde. Es geht beim RPG-Schreiben beileibe nicht darum, eine perfekt durchkalkulierte Welt darzustellen, dennoch ist die Realität die wohl beste und ergiebigste Inspirationsquelle die das RPGlerdasein zu bieten hat. Nutzen wir sie, lassen wir die Realität in unsere Phantasie einwirken und finden wir ganz neue Wege der Kombination von Hirngespinst und Erfahrung.
Wünschenswertes Ziel ist es im Rollenspiel eine in sich schlüssige Welt zu kreieren, nicht alles muss jeder verstehen, denn das tun die Bewohner der Realität ja auch nicht. Trotzdem, sollten wir den Anspruch haben eine virtuelle Realität zu schaffen eine Atmosphäre des Realismus, denn das erst macht Geschichten nachvollziehbar, erlebbar und interessant.
Für jeden einzelnen bedeutet es aber, dass Charakterentwicklung genauso in die Vergangenheit und in Begründungen für Handlungsweisen investiert werden sollte, wie in die fortschreitende Handlung, denn ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft.
Bei der Entdeckung der Vergangenheit unserer Charaktere, unserer RPG-Welt hilft uns die Realität, das Beobachten und Nachdenken, das sich selbst Bewusstwerden der eigenen Handlungsweisen, das Kennenlernen der eigenen realen Person.