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03 Nordmar und Varant

Varant

Spuren im Sand – Portrait einer Wüste

Tief am Himmel steht die rötlich und noch schwach leuchtende Sonne, die ein geradezu zauberhaftes Glitzern auf den kühlen Wüstensand wirft. Die Kälte der Nacht fährt allen aus den Gliedern, während der aromatische Duft von Kaffee die Luft erfüllt. Maliq ben Hazir sieht noch einmal seinen Rucksack durch, um sicher zu gehen, dass er auch keines seiner Utensilien für die Reise vergessen hat, während seine Frau den starken varanter Kaffee in die Tässchen gießt. Nirgendwo auf der Welt kann es so tödlich sein wie hier, ein Ausrüstungsteil bei der Abreise zu vergessen – dennoch bleibt Maliq ganz gelassen:
„Wenn ich vor jeder Abreise Angst hätte, wäre ich kein Nomade.“
Wir befinden uns am Rande Al Shedims, dort, wo kaum noch ein Zelt zu finden ist. Unser Gastgeber erklärt uns, er liebe die Ruhe hier. Der Trubel um den Tempel herum ist nichts für ihn. Hier, wo man der Wüste so nahe ist wie kein anderer Stadtbewohner, am schmalen, nicht vom Wald bewachsenen Korridor nördlich von Al Shedim, leben Maliq und seine Frau nach alter nomadischer Sitte, ohne auf den Schutz der Stadt zu verzichten. Von Zeit zu Zeit jedoch ist es notwendig, dass der alternde Nomade sich auf den beschwerlichen Weg durch die Wüste macht, um seine Sippe im Nordosten aufzusuchen.

Der Abschied von seiner Frau ist kurz und schmerzlos, denn für Maliq ist es nur zu normal, diesen Weg anzutreten.
„In meinen vierzig Lebensjahren bin ich diesen Weg schon hunderte Male abgegangen. So Adanos und die Mutter wollen, werde ich auch diesmal mein Ziel erreichen.“
Ein letzter Blick auf seine Frau, dann legt Maliq den Mundschutz vors Gesicht, sodass seine Augen das Einzige sind, was noch von ihm zu sehen ist, und wendet den Blick hinaus auf die offene Wüste.
Ein verächtliches Knurren entfährt dem Nomaden, als sein Blick auf den magischen Wald fällt.
„Er zerstört unsere Identität als Kinder der Wüste.“
Bald jedoch erinnert nichts mehr an das saftige Grüne des Waldes, und endlos scheinende Ebenen voll Sand tun sich vor ihm auf. Dies ist seine Heimat, sagt er, hier fühlt er sich zu Hause.

Im Westen ragt der Tafelberg von Mora Sul mit all seiner Masse aus dem Boden, doch von den dort lebenden Assassinen ist Maliq ben Hazir weit entfernt. Sein Weg führt weiter hinaus in die offene Landschaft der Sandwüste westlich von Mora Sul. Ob es auch andere Anblicke als Sand gibt, fragen wir.
„Natürlich“, entgegnet der Nomade belustigt, „Seht die Ruinenfelder von Mora Sul und die westlich des großen Molochs liegende Steinwüste an, oder die gefährlichen Gebirgspässe! Ganz im Westen gibt es das fruchtbare Tal der Löwen, und im Nordosten Varants ändert sich um Lago das Klima schlagartig!“
Bald schon bleibt der erfahrene Wüstensohn stehen und deutend in den Sand. „Seht!“, sagt er. Es dauert einige Augenblicke, bis wir erkennen, was Maliq meint, doch dann sehen wir die Tierwelt der Wüste direkt vor unseren Augen. Eine Echse huscht schnell unter einen Stein, um Schutz vor der Sonne zu suchen. Wüstenschlangen bewegen sich in ihrer ganz eigenen, seitwärts gewandten Art durch den Sand und hinterlassen wellenförmige Muster, die binnen Sekunden verweht werden. Ein pechschwarzer Skorpion trippelt auf seinen vielen Beinen direkt an unseren Füßen vorbei, die Scheren wippen im Takt seines Ganges.

„Die Wüste ist alles andere als leblos, man muss nur hinsehen! Und in der Nacht lebt sie noch viel mehr auf.“, erklärt uns der Wanderer, der hin und weg von dieser Region scheint. Bald schon aber geht die Reise weiter, und bis zum Mittag erreichen wir den Rand des Dünengebietes, sehen eine weit ausladende, brennend heiße Ebene vor uns.
„Wir machen eine Pause!“, erklärt uns Maliq, „Während der Mittagszeit wollt Ihr nicht wandern.“
Als es kühler wird, setzen wir die Reise fort. Bald schon sehen wir flechtenartige Gewächse, die man kaum als solche wahrnehmen mag, am Boden, und als ob sie von Adanos‘ Hand gesetzt wurden, finden wir in immer gleichen Abständen wie an einer Schnur gezogen Akazien mit ihren weit ausladenden Kronen.
„Sie stehen so weit auseinander, weil ihre Wurzeln hunderte Meter weit reichen, um möglichst viel Wasser hier aufnehmen zu können. Wo Akazien sind, ist eine Wasserlinie.“

Wir reisen weiter und weiter, machen nur kurz Rast, um etwas vom pflanzlichen Proviant zu uns zu nehmen – Brot und Kichererbsenbrei. Mit eiserner Disziplin wird das Wasser rationiert, nur ein paar Schlucke stehen einem Mann zu. Wer undiszipliniert mit dem Wasser umgeht, stirbt – so sagt es Maliq uns jedenfalls.
Bald schon sinkt die Sonne dem Horizont entgegen, und im Sonnenuntergang findet unser Führer einige unscheinbare Grashalme. Kurzerhand nimmt er ein Messer zur Hilfe und legt die erstaunlich große, knollenartige Wurzel frei.
„Die enthält Wasser“, erklärt er und steckt sie ein. Am Abend will er sie zerkleinern und das Wasser herauspressen.
Als die Sonne sich wie ein infernaler Feuerball endgültig für diesen Tag verabschieden will, erblicken wir in einiger Entfernung eine kleine Grünfläche, eine Oase. Wir fragen, ob es eine Fata Morgana ist.
„Nein, eine Fata Morgana entsteht nicht, wenn es wieder kühler wird. Sie ist eine Spiegelung in den heißesten Stunden und lässt uns so Dinge sehen, die sehr viel weiter weg sind, als man annimmt. Die Oase war in einer Fata Morgana bereits heute am frühen Nachmittag zu sehen.“

Die Sterne zeigen dem Wüstensohn nun an, dass sie gen Osten reisen – doch das Ziel ist ohnehin die Oase. Keine größeren Tiere halten sich an der Wasserstelle auf, und auch andere Menschen sind nicht zu sehen. Wir wollen vom Wasser trinken, doch Maliq hält uns zurück.
„Macht diesen Fehler nicht! Wir werden ein großes Tuch über das Wasser spannen und es morgen vor Sonnenaufgang auswinden. Das Wasser im Oasensee ist zu salzig, um es so zu trinken.“
Es ist schwer, dieser Verlockung zu widerstehen, doch wir folgen dem Rat des Nomaden und bauen unser Zelt auf, das winzig ist und in das wir kaum hinein passen, um uns schlafen zu legen, während er die gefundene Wurzel im Sternenschein bearbeitet. Eine friedvolle Stille wiegt uns in den Schlaf, begleitet vom selten so klar erstrahlenden Sternenglanz und den vereinzelten Geräuschen der nachtaktiven Tiere.

Das Erwachen ist ungemütlich, als der Wüstenwanderer uns weckt, indem er auf einen Topf schlägt, der ebenfalls noch in seinem Rucksack Platz gefunden zu haben scheint.
„Die Nacht war zu mild, wir haben kaum Wasser gewonnen“, sagt er uns, ist aber zuversichtlich. „Wir waren bislang nicht verschwenderisch, und so kann ich euch noch einen weiteren Weg zeigen.“
Das Fleisch von Kakteen sei ebenfalls ein guter Wasserspender, sagt er, doch in dieser Region wachsen keine Exemplare dieser Pflanzengattung.
Das Territorium, das wir nun betreten, ist von leichtem Wuchs geprägt, wie Findlinge ragen die riesigen Bauten von Termiten aus dem Boden. Maliq zieht lächelnd einen kleinen Brocken Salz hervor und steckt ihn in eines der Löcher des Termitenbaus. Dann verstecken wir uns und warten. Es dauert nicht lang, als wir das betriebsame Fiepen eines Affen hören, und als würde der Nomade ihn steuern, hält das kleine Tier direkt auf den Termitenbau zu, um das Salz zu ergattern. Doch plötzlich sind der Kummer und das Geschrei groß, denn die Hand des Affen passt zwar hinein, doch wenn er die Faust um den Brocken ballt, kommt er nicht mehr heraus. Bis zur Mittagshitze beobachten wir den Affen, der lieber gefangen bleibt, als das Salz loszulassen, und nutzen den Schatten des Felsen, hinter dem wir uns verstecken. Schließlich wird der Affe kraftlos, und Maliq erlöst ihn von seinem Leid, hilft ihm, frei zu kommen. Zum Dank, ob gewollt oder nicht, führt dieser ihn nun geradewegs zu seinem Wasservorrat – eine kaum sichtbare, kleine Höhle, in der die Wasserader einen unterirdischen Wasserlauf zu besitzen scheint. Wir trinken, bis unser Durst gestillt ist, und machen uns schließlich auf zur letzten Etappe.

„Die meisten Menschen wissen den Zauber der Mutter Wüste nicht zu schätzen“, meint der Nomade bedauernd. „Nicht einmal die Assassinen begreifen, was es heißt, mit ihr zu leben, anstatt mit ihren Städten und Bauten gegen sie anzukämpfen, und sie sind hier ebenso wie wir heimisch.“ Es ist früher Nachmittag, als die Vegetation um uns wieder schlagartig abnimmt und sich erneut gewaltige Dünen vom Boden erheben, da erblicken wir das Lager der Sippe um den Nomaden Hurit und den Priester Vatras – Maliqs Brüder.
Der Empfang ist herzlich, und nach diesem zweitägigen Ausflug quer durch die Wüste erscheint uns selbst ein einfaches Fleischgericht wie ein Festmahl. Ein Leben voller Disziplin und Enthaltung ist es, das diese Männer zu harten Männern macht und stählt, und so gehören sie wohl wahrlich zu den großen Überlebenskünstlern des Festlandes.
Der Zauber der Wüste findet an dieser Stelle für uns ein Ende, doch für die Nomaden geht er weiter – und auch wenn es für uns wie eine unglaubliche Quälerei anmuten mag, diese Strapazen immer und immer wieder auf sich zu nehmen, sich den Gefahren Varants auszusetzen und immer in der Sorge um den nächsten Schluck Wasser zu leben, welches das alles bestimmende Element hier ist, so ist es doch für die Nomaden Varants vor allem eines: der große Traum von grenzenloser Freiheit.

(-- Maris)

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