08 Silberlieder



Wache Augen

Mit jedem patschenden Schritt, den sie die Anhöhe hinauf nahm, durchdrang die Nässe ihre Stiefel noch weiter – ein Glück, dass es kein großer Verlust wäre, wenn ihr Schuhwerk sich in Wohlgefallen auflöste; ihre Schwester hätte mit ihren Prinzessinnenschühchen ein weitaus größeres Drama veranstaltet. Es regnete, viel zu häufig in diesem Teil der Insel, wenn es nach ihr ging. Nicht, dass sie sich davon tatsächlich stören ließ, aber von Zeit zu Zeit waren die manchmal sintflutartigen Intermezzi des launischen Himmelszeltes doch etwas lästig.
„Norman!“, rief sie dem Wachmann am Tor zu, „Mach auf! Seit wann machst du denn das Gatter runter?“
„Hab ‘nen Anschiss bekommen“, entgegnete der Torwächter. „Was machst du denn um die Zeit noch draußen, und vor allem bei dem Wetter? Du holst dir noch den Tod, Mädchen!“
Sie entgegnete nichts, und Norman öffnete ohne weiteren Kommentar das Tor.

Die Mauern des Burghofes boten ein wenig Schutz vor dem Sturm, der durch die Ebenen der Baronie Silbersee tobte, aber auch hierstand das Wasser knöcheltief und verwandelte den Schottergrund des Hofes in ein gewaltiges Feld aus Schlamm. Schnellen Schrittes durchmaß sie den Burghof und hämmerte zwei, dreimal auf die hölzerne Flügeltür ein. Ihr Blick glitt über die matt glänzenden Schilde links und rechts des Eingangs, auf denen das Wappen von Silbersee prangte und die von gekreuzten Säbeln gesäumt wurden, während sich einer der Flügel knarrend öffnete.
Ein Soldat in der üblichen blauen Brigantine der setarrifischen Truppen streckte seine scharf gebogene Nase durch den Spalt, ein bärtiger Mund und eine haarlose Stirn folgten dem Zinken hinaus ins Freie, nur um wieder zurück ins Innere zu zucken, als ein fetter Regentropfen auf die Glatze des Mannes klatschte. Dann öffnete sich die Tür ein Stück weiter, und der Mann bat sie herein.
„Angst vor dem Wasser, Kardor?“, flötete sie keck im Vorbeigehen, dass der Soldat die Miene verzog, während er die Tür wieder schloss.
„Dass dein Vater deine wilden Streifzüge überhaupt mitmache, wundert mich immer wieder. Dein Onkel ist oben… wie du dir sicher schon gedacht hast.“
„Gut.“
Zielstrebig nahm sie den Weg zur Treppe und hinterließ eine triefende Spur dreckigen Wassers in der Halle. Das Getrommel der aufprallenden Tropfen schien sich schlagartig um ein Vielfaches verstärkt zu haben – der Sturm brandete also noch einmal auf.
„Scheiß Regen!“, brüllte einer der Soldaten quer durch die Burg. „Denen da oben macht das wohl Spaß!“

Der Kamin feuerte kräftig, um dem kalten Zug, der quer durch die offene Burg wehte und auch denen den Duft des Regens kalt in die Nase trieb, die sich hier drinnen versteckten, zumindest etwas entgegen zu wirken. Dennoch war es kalt, vielleicht kam es ihr aber auch nur so vor, weil das wattierte Innenfutter ihrer dunklen Lederweste mit Wasser vollgesogen und sie hoffnungslos unterkühlt von ihrem Streifzug draußen war.
Die schimmernde Rüstung ihres Onkels stach ihr im Widerschein des Kaminfeuers zuerst in die Augen, dann machte sie Gilthor, den Kastellan der Burg, und einige weitere höher gestellte Krieger am Tisch aus. Offensichtlich sprengte sie gerade eine Besprechung, aber es war ihr einerlei.
Der Herr der Baronie Silbersee sprang auf und trat ihr mit offenen Armen entgegen. „Eine Freude, dich zu sehen, Sonnenschein! Ich nehme an, dein Vater weiß wie immer nicht, wo du dich herumtreibst?“
Das Mädchen verzog die Miene, löste sich aus der herzlichen Umarmung ihres Onkels und ließ sich kurzerhand auf der Tafel nieder, wo das nasse Leder ihrer Kleidung einige frisch aufgesetzte Dokumente vernichtete.
„Karella!“, empörte sich der Kastellan, dass die unflätige Königstochter ihm den trotzigen Blick eines störrischen Mädchens zuwarf, doch Lord Gawaan ging dazwischen, indem er seine Nichte behände am Arm vom Tisch zog und ihr seinen Platz an der Tafel anbot.
„Sei nicht so streng mit ihr, Gilthor! Mein Bruder hat seine Töchter beide auf ihre eigene charmante Art verzogen.“

Einen Moment lang verzog Karella das Gesicht noch etwas mehr und lümmelte sich auf den Stuhl, dann besann sie sich wieder und richtete sich auf, während sich ihr Onkel auf einem anderen Platz nieder setzte – die Besprechung war wohl ohnehin vorerst beendet.
„Also Karella, was führt dich her?“
„Regen“, entgegnete sie schulterzuckend und biss herzhaft in einen giftgrünen Apfel, den sie aus einer Obstschale auf der Tafel genommen hatte. Dann aber rückte sie doch noch mit mehr heraus.
„Ich war in den Sümpfen, wollte mir diese merkwürdigen Neuankömmlinge anschauen“, erklärte die Tochter Ethorns VI., „Hab da nicht allzu viel herausgefunden, außer dass das ein Volk von Wahnsinnigen zu sein scheint. Aber als ich den Orkwald durchquerte, habe ich etwas gesehen.“
Der Burgherr zog die Augenbrauen hoch und beugte sich nach vorn. Die golden schimmernden Armschienen schepperten, als er sich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte abstützte.
„Onkel Gawaan, ich glaube, dass sich dort… Orks niederlassen. Aber das sind nicht die Orks, wie sie im Süden der Baronie hausen. Diese sind… intelligenter, militärischer. Ich glaube, du solltest aufpassen.“
Grübelnd fuhr sich Gawaan durch den Bart, erhob sich, ging einige Schritte in die eine, dann wieder in die andere Richtung. Dann wandte er sich wieder Karella zu.
„Ich danke dir, aber bitte, um den Verstand deines Vaters willen, geh nicht mehr dorthin, um mehr herauszufinden!“
Ein plötzlicher Luftzug ließ das Kaminfeuer flackern und tauchte den Raum für einen Moment in Dunkelheit. Fröstelnd schlang Karella die Arme um ihre Schultern.
„Jetzt lass dir aber erst einmal neue Kleidung geben! Deine Schwester hat einige Kleider im Südturm lagern lassen, ich werde sie gleich für dich holen lassen.“
Schmollend schob Karella bei der Aussicht auf die Kleider ihrer Schwester die Unterlippe hervor, doch das war wohl der Preis dafür, dass sie sich einmal mehr ohne die Erlaubnis ihres Vaters hinaus in die Wildnis. Das Trommeln des Regens draußen verstummte schlagartig, als der Himmel in diesem Moment entschied, dass er genug geweint hatte. Nur die vor Nässe triefenden langen Haare des Mädchens tropften weiter munter vor sich hin.